: The Jena Codex. Facsimile. Prag 2009 : Gallery, ISBN 978-80-86990-99-6 232 S. € 95,00 (beide Bände)

: The Jena Codex. Commentary. Prag 2009 : Gallery, ISBN 978-80-86990-99-6 224 S. € 95,00 (beide Bände)

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Mutschler, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena

Habent sua fata libelli – auch Bücher haben bekanntlich ihr jeweils eigenes Schicksal. Das auf den nordafrikanischen Dichter und Grammatiker Terentianus Maurus aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert zurückgehende Sprichwort machen sich auch die Herausgeber der jüngst erschienenen Faksimile-Ausgabe des „Jena Codex“ zu eigen – und zitieren es im Vorwort ihres wissenschaftlichen Begleitbandes. Immerhin teilt die in Böhmen um 1500 entstandene und in Anlehnung an ihren ehemaligen Aufbewahrungsort als Jenaer Kodex bekannte Sammelhandschrift das Schicksal zahlreicher Kulturgüter des Mittelalters, indem sie sich bald nach ihrer Entstehung auf eine wechselvolle Wanderschaft begab, die für sich betrachtet schon kulturgeschichtlich bedeutsam ist. Sie führte den handlichen Kodex zunächst an den Wittenberger Hof der sächsischen Kurfürsten und ließ ihn im Jahr 1549 nach Jena gelangen, wo sich das wohl herausragendste Zeugnis illuminierter Buchkunst der böhmischen Kirchenreform für mehr als 400 Jahre aufhielt, bis es zwei Jahre nach Gründung der DDR im Jahr 1951 von deren Staatsoberhaupt Wilhelm Pieck anlässlich eines Staatsbesuches in der Tschechoslowakei dem dortigen Präsidenten als sogenanntes Freundschaftsgeschenk überreicht wurde. Seither befindet sich der Kodex unter der Signatur IV B 24 im Besitz des Prager Nationalmuseums. Neben einem weiteren Exemplar, dem in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen verwahrten „Hussitenkodex“1, gehört der Jenaer Kodex zu den wenigen erhaltenen Zeugnissen hussitischer Buchmalerei, welche die Phase der Rekatholisierung Böhmens im 17. Jahrhundert in protestantischen Reichsterritorien überdauert haben.

Das nunmehr unter Federführung des Prager Nationalmuseums publizierte Faksimile stellt das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen dar. Erstmals werden Text und Bild des Jenaer Kodex in originalgetreuer Wiedergabe als leinengebundenes Buchhandelsexemplar verfügbar. Ergänzt wird das Faksimile durch einen auch in englischer Sprache verfügbaren Begleitband, der nicht nur eine wissenschaftliche Kommentierung der in Latein und (Alt-)Tschechisch verfassten Textteile des Kodex sowie deren Transkription bietet, sondern darüber hinaus die zahlreichen Illuminationen und Holzschnitte des Kodex ikonographisch deutet. Zudem hält der Begleitband den aktuellen Forschungsstand zum insgesamt 114 Blätter umfassenden Kodex in sechs Einzelbeiträgen fest. Deren Autoren nähern sich der Handschrift unter geschichtswissenschaftlichen sowie buch-, kunst- und bestandshistorischen Fragestellungen wie auch unter kodikologischen und konservatorischen Aspekten an.

Die Autoren des Kommentars müssen zwei Fragen beantworten. Zum einen, wer diesen Kodex zu welchem Zeitpunkt besitzen und benutzen wollte, und warum er ihm so wichtig war. Zum anderen, warum uns der Kodex heute noch so sehr fasziniert, dass der Verleger erfreulicherweise nicht davor zurückschreckte, die vorliegende Faksimile-Ausgabe seinen Lesern zu präsentieren – was umso positiver erscheint, als der Kodex bereits heute sowohl der Forschung als auch der interessierten Öffentlichkeit im Internetportal „manuscriptorium.com“ in digitaler Form zur Verfügung steht, inklusive der für seine Erforschung notwendigen Metadaten.

Die erste Frage wird wie ein geschichtspolitischer Eisberg umschifft. Damit bleibt das ungeheure Forschungspotential besonders mit Blick auf die kulturhistorische Dimension seiner Nutzungs- und Gebrauchsgeschichte unausgeschöpft. Fast scheint es so, als wäre der Kodex nach seiner Ankunft im Wittenberg der Reformationszeit ignoriert worden, als wäre der amerikanische Kunsthistoriker Thomas DaCosta Kaufmann mit seinem Versuch, das Heilige Römische Reich als kulturelle Einheit zu verstehen und damit zu einem neuen Begriff (mittel-)europäischer Kultur beizutragen, kläglich gescheitert.2 Man könnte beinahe meinen, die Handschrift wäre im Anschluss an ihre Überführung nach Jena als herausragender Teil der „Bibliotheca Electoralis“ in einen Jahrhunderte langen Dornröschenschlaf gefallen.

Stattdessen konzentrieren sich die Herausgeber auf die zweite weniger heikle Frage nach der Entstehung des Kodex wohl im Umfeld der Prager Universität und somit auch auf die Anziehungskraft des Jenaer Kodex für uns Heutige. Da ist zunächst die Strahlkraft der Buchmalereien, die dem Betrachter in guter Bildqualität einzigartige Einblicke gewähren in die fremd gewordenen religiösen Vorstellungswelten der böhmischen Kirchenreformer: etwa die sogenannten Bildantithesen, dank der Faksimile-Ausgabe nunmehr im Kontext erfahrbar, ohne dass hierfür das Original herangezogen werden muss, denen der Kodex seinen offiziellen Werktitel („Antithesis Christi et Antichristi“) verdankt; die auf den Anhänger der Husschen Kirchenreform Nikolaus von Dresden zurückgehenden „Tabualae veteris et novi coloris“ (9v, 12r-24v, 26r-37r), die in eindrucksvollen Darstellungen die verweltlichte, mächtige und reiche Kirche der Bischöfe und Päpste einer vernichtenden Kritik unterziehen; oder die „Zeitbilder“ (25r, 66r-77v) mit ihrem eschatologischen Bildprogramm.

Hinzu kommen jene Bildpaare, welche die zu unterschiedlichen Jahrzehnten während der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenen Einzelwerke des Jenaer Kodex zu einem Ganzen formen: so die Darstellung der „Urbs terrana“, die vom Papst als Antichrist regiert wird, welcher die „Urbs coelestis“ gegenübergestellt wird (10r-11v); oder die berühmte Darstellung der von modisch gekleideten Dienerinnen umsorgten Mönche im Bade, die auf der gegenüberliegenden Seite in Kontrast gesetzt werden mit dem folterleidenden Laurentius (78-79r).

Hervorzuheben sind schließlich auch die Darstellung der Abendmahlsfeier nach utraquistischem Ritus, bei der alle Teilnehmer des Gottesdienstes beide Gaben, also nicht nur Brot, sondern auch Wein, empfingen (55v), die Schlachtszene zwischen den aufständischen Hussiten und den Kreuzrittern (56r), das Martyrium des Hieronymus von Prag und des Jan Hus auf dem Konstanzer Konzil 1415 (38r-38v) und die Darstellung des Jan Hus als Prediger (37v), welcher der Sammelhandschrift zu einem Grad an Popularität verholfen hat, die jeden Buchkonservator erschaudern lässt.

Die vielleicht interessantesten Neuigkeiten erfährt man jedoch über die weniger spektakulären Teile des Kodex, zum Beispiel über die in der Mitte des Buchblockes eingebundene Inkunabel, die 1495 gedruckte Beigabe zu einem Passionale (39r-54r). Dieses hält nach dem Vorbild Christi das Leben und Wirken unter anderem des Jan Hus in zentralen Mementos fest und ist in drei weiteren unterschiedlichen Textvarianten bekannt, die nach ihrem Verbot im 17. Jahrhundert ebenso wie der Kodex außerhalb des habsburgischen Machtbereichs erhalten geblieben sind. In diesem Sinne muss auch der Kodex für seinen Urheber (einen Prager Kollegiaten) so etwas wie ein Erinnerungsort gewesen sein. Als solcher sollte er seine Betrachter nicht nur an die besonders für Böhmen ereignisreichen Entwicklungen des 15. Jahrhunderts ermahnen, sondern dürfte auch didaktische Funktionen erfüllt haben, indem er seine Leser an die Endlichkeit der Dinge erinnerte, wie aus dem Begleitband zu erfahren ist.

Eines bedarf aber doch noch der Spezifizierung: Wenn sich der Kodex tatsächlich noch im Jahr 1526 in Böhmen befunden haben sollte, wie der Begleitband anhand einer Randnotiz glaubhaft versichert, so lässt sich der Zeitraum seines Transfers an den Hof der sächsischen Kurfürsten auf die anschließende Dekade enger eingrenzen, als im Begleitband vorgenommen. Denn bereits 1536 wird er im Katalog der „Bibliotheca Electoralis“ der sächsischen Kurfürsten als „behemisch buch“ aufgeführt. Ein Blick in die aktuelle Literatur hätte dabei geholfen, zumindest dieses eine Rätsel des Jenaer Kodex zu lösen.3 Auch die geäußerte Annahme, wonach der Kodex durch Johann Friedrich den Großmütigen oder sogar Philipp Melanchthon der Jenaer Akademie bei ihrer Gründung verehrt worden sei, erscheint in diesem Lichte nicht aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass die moderne Übersetzung der tschechischen Textteile des Kodex ins Englische oder Deutsche ein dringendes Forschungsdesiderat darstellt, um den Inhalt der Handschrift für weitere Forschungen noch besser zugänglich machen zu können.

Habent sua fata libelli – so gesehen behält auch des Dichters Wort Gültigkeit. Dies umso mehr, wenn es nicht in der üblicherweise verkürzten Form wiedergegeben wird, sondern der vollständige Vers in Betracht gezogen wird: pro captu lectoris habent sua fata libelli. Nicht das wechselvolle Schicksal von Büchern an und für sich – nicht deren Entstellung, Zensur, Verschleppung oder gar Vernichtung in Katastrophen – dürfte der antike Dichter damit gemeint haben, sondern der Satz zielt (wie die Formulierung des ganzen Verses zeigt) auf das Verhältnis der Bücher zu ihren Lesern ab: Bücher besitzen danach ihr jeweils eigenes Schicksal in Abhängigkeit von ihren Lesern. In diesem Sinne wünscht man sich weitere Forschungen zum Jenaer Kodex.

Anmerkungen:
1 Beide Kodices wurden bis zum 4. April 2010 in der Ausstellung über die Kunst der böhmischen Kirchenreform auf der Prager Burg präsentiert.
2 Thomas DaCosta Kaufmann, Court, Cloister and City. The Art and Culture of Central Europe 1450-1800, London 1995.
3 Bernhard Tönnies, Die Handschriften der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Bd. 1: Die mittelalterlichen lateinischen Handschriften der Electoralis-Gruppe, Wiesbaden 2002, S. 141.

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